Volkstrauertag 2022: Mahnmahl oder „Ich hatt einen Kameraden“

Mahnmal oder „Ich hatt einen Kameraden…“

Werner Nienhüser

Volkstrauertag 13.11.2022, Denkmal Lippramsdorf. Abordnungen der Feuerwehr und des Schützenvereins marschieren auf. Zwei Fackelträger haben sich bereits links und rechts des Denkmals unterhalb der martialischen Soldatenskulptur des Denkmals postiert. Bürgermeister Andreas Stegemann hält eine Rede. Er erinnert an die Opfer der Weltkriege und stellt Bezüge her zum Krieg in der Ukraine und unserem Umgang mit geflüchteten Menschen. Das Denkmal, darauf weist er hin, sei ein Mahnmal. Nach der Rede wird über Lautsprecher eine Instrumentalversion des Liedes „Ich hatt einen Kameraden“ abgespielt, es folgt die Nationalhymne, ebenfalls instrumental.

Volkstrauertag 2022

Während die Rede von Bürgermeister Stegemann ein inklusives, alle Kriegsopfer einbeziehendes Gedenken beabsichtigte, schließt das Lied „Ich hatt einen Kameraden“ nach meinem Verständnis des Kameradenbegriffes alle Nicht-Soldaten oder zumindest alle Nicht-Kämpfenden nahezu vollständig aus.1Man mag die Bezeichnung „Kamerad“ auch bei Schützenvereinen oder Feuerwehren anwenden. Das ändert aber nichts an der ausschließenden Bedeutung des Wortes. Auf den keineswegs friedensliebenden Text des Liedes will ich über den Titel hinaus hier nicht weiter eingehen, da eine Instrumentalversion gespielt wurde. Die unterschiedlichen Verwendungsweisen und Deutungen des Liedes hat Kurt Oesterle bereits vor rund zwanzig Jahren in einem abwägenden Artikel aufgezeigt: Oesterle, Kurt (2001): Die heimliche deutsche Hymne. In: Tageszeitung (taz). https://taz.de/Die-heimliche-deutsche-Hymne/!1141797. Wenn die Bundeswehr ihrer in militärischen Einsätzen getöteten Soldat:innen gedenkt, mag man dieses Lied vielleicht für passend halten, obwohl es bei den „Heldengedenktagen“ der Nationalsozialisten gesungen wurde. Zum Volkstrauertag ist das Lied aber deswegen unpassend, weil es Assoziationen erzeugt, die eine Erinnerung an viele von den Nazis getöteten Menschen in gedankliche Ferne rücken lassen. Denken wir bei „Kameraden“ an die in den Konzentrationslagern ermordeten Menschen? An die Kranken, die man in den Psychiatrien systematisch verhungern ließ oder zu tödlichen medizinischen Versuchen benutzte? Denken wir an die mit dem Fallbeil hingerichteten Widerstandskämpfer:innen, etwa der „Weißen Rose“? Denken wir an die durch Bomben umgekommenen Nachbarn? An die zu Tode geschufteten Zwangsarbeiter:innen? Die Rede des Bürgermeisters interpretiere ich so, dass sie an das Schicksal all dieser Menschen erinnern soll und ein umfassendes Erinnern anmahnt. Ein Lied mit dem Begriff „Kameraden“ im Titel (und Text) dagegen – das grenzt aus; zumindest legt es eine Erinnerung an soldatische Kampfgefährten nahe und rückt das Denken an andere Menschen massiv in den Hintergrund. Ein solches Lied in Verbindung mit der quasi-militärischen Symbolik der Veranstaltung – mit Fackelträgern, Uniformen, Marschformation – steht in starken Kontrast zur Rede, sofern sie eine umfassendere Erinnerung beabsichtigt. Da nützt auch die Bezeichnung des Denkmals als Mahnmal, als Mahnung, für den Frieden einzutreten, für ein Nie-Wieder-Krieg, wenig, die gute Absicht wird kraftlos und geht unter in einer unkritischen Huldigung des Soldatischen durch die starke Symbolik der Gesamtveranstaltung. Reden wirken eben schwächer als starke, eindrucksvolle Rituale und Symbole. Reden, da müssen wir zuhören und nachdenken. Symbole wie Uniformen, Flaggen, Fackeln, Lieder und Marschformationen dagegen wirken direkter, sie wirken gleichsam hinter unserem Rücken und erreichen bei vielen gewollt oder ungewollt die Herzen oder den Bauch. Umfassendes Erinnern, Friedensliebe und Motivation, sich aktiv für den Frieden, gegen Krieg einzusetzen, entstehen durch solche Veranstaltungen nicht.