Rede zur Gedenkfeier 2025
8. Mai 2025: Rede bei der Gedenkveranstaltung zum Ende des Zweiten Weltkriegs am „Mahnmal“ in Lippramsdorf
Werner Nienhüser
Die Zeiten, die ändern sich (The times, they are a-changing) – und manches droht zurückzukommen
(Der Redetext kann hier als PDF heruntergeladen werden.)
Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Freundinnen und Freunde.
Warum stehen wir hier? Heute ist der 8. Mai. Heute vor 80 Jahren endete der Zweite Weltkrieg. Die Alliierten siegten über Deutschland. An diesen Tag erinnern wir heute.
Der 8. Mai 1945 war ein Tag der Befreiung. Das mögen nicht alle Deutschen so empfunden haben. Ganz gewiss war der Tag eine Befreiung für die Überlebenden der Konzentrationslager, der Kriegsgefangenen- und Zwangsarbeiter-Lager und der Gestapo-Gefängnisse. Eine Befreiung war der Tag auch für die desertierten Soldaten und diejenigen, die im Widerstand aktiv waren.
Am 8. Mai endete die Herrschaft der Nationalsozialisten. Ein demokratisches System wurde möglich. Wir sollten uns auch daran erinnern, dass die Nazi-Herrschaft nur mit massiver Waffengewalt der Alliierten beendet werden konnte. Für den Sieg über die Nazis starben auf Seiten der Alliierten 17 Millionen Soldaten.
Meine Damen und Herren, warum machen wir diese Gedenkveranstaltung hier vor diesem Kriegerdenkmal – und zwar bereits zum vierten Mal?
Wir, die Gruppe Denk.Mal im Forum für Demokratie, Respekt und Vielfalt aus Haltern, wir wollen, dass dieser Ort ein Ort wird, an dem man sich an alle Kriegsopfer erinnern und um alle friedvoll trauern kann.
Die beiden Soldatenfiguren sind nicht friedvoll. Die Figuren sind aggressiv. Sie stehen nicht für Verteidigung, sondern für Angriff. Sie verherrlichen den Krieg, den massenhaften Mord.
Ein Blick in die Geschichte hilft uns zu verstehen, warum so ein Denkmal hier steht. Und was das für eine mögliche Umgestaltung dieses Ortes heißen kann.
Blicken wir zurück in die 1930er Jahre.
Wir zitieren aus einer Rede, die am Volktrauertag, am 12. März 1933, in Haltern gehalten wurde. Und zwar am Denkmal auf dem Annaberg. (In der „Halterner Zeitung“ vom 14. März 1933 kann man diese und eine weitere Rede in voller Länge nachlesen, sie sind auch auf der Webseite denkmallippramsdorf.de abgedruckt.)
Das folgende Zitat stammt aus der Rede des damaligen Amtsbürgermeisters von Haltern, Dr. Josef Rieth, NSDAP-Mitglied.[1]
Nobert Schulz wird freundlicherweise das Zitat aus der Rede lesen.
„Deutsche Männer, Deutsche Frauen, Kameraden!
… Stolz und wahrhaft sind wir 1914 als Soldaten hinaus gezogen. Treu dem Vaterland haben wir im Westen, Osten, Süden und auf den Weltmeeren die Heimat verteidigt und die deutsche Ehre gerettet. Viele sind nicht wiedergekehrt, sind den Heldentod gestorben. Deutsches Leben mußte mit deutschem Blute erkämpft werden, für das deutsche Volk starben deutsche Männer dahin. … Und wenn wir heute in die Dörfer und Städte schauen, so haben wir Soldaten allen Grund, freudig gestimmt zu sein. Wehen doch wieder die Fahnen, mit denen wir einst hinausgezogen und unter denen unsere Helden gefallen sind: Schwarz-weiß-rot. Wir danken der Reichsregierung, daß sie diesen sehnlichen Wunsch des deutschen Volkes heute erfüllt hat. Vor 8 Tagen hat das deutsche Volk die Frage des Herrn Reichspräsidenten, ob es von einem Kabinett der nationalen Konzentration geführt sein will, mit einem deutlichen Ja beantwortet. …. Gewaltige Aufgaben stehen uns bevor. … der Heldengeist der Gefallenen hebt sich wieder empor. Er wird für uns zur neuen Kraftquelle werden, an der wir uns wieder aufrichten. Wie wir einst als wehrhaftes Volk die deutsche Ehre geschützt haben, so müssen wir auch in Zukunft für die Ehre der Nation in Wehrhaftigkeit einstehen.“[2]
Was ist der Geist dieser Rede, die vor rund 90 Jahren auf dem Annaberg gehalten wurde? Lob der Wehrhaftigkeit! Das Sterben der Soldaten ist ein ehrenhaftes Opfer! Ein Opfer für das Leben des deutschen Volkes! Für die Ehre der Nation! Der „Heldengeist der Gefallenen … als Kraftquelle“! Das Handeln und Denken der gesamten Gesellschaft wurden militarisiert. Mit Aufmärschen und Fahnen, mit Lobgesang auf das Soldatentum. Eine Geisteshaltung, die mit bewirkte, dass es wenige Jahre später zu Angriffskrieg und Völkermord kam.
Zu dieser Geisteshaltung vor rund 90 Jahren passt das Kriegerdenkmal, wie wir es hier sehen. Es verherrlicht die Wehrhaftigkeit, es verherrlicht den Angriff, das deutsche Soldatentum, die Armee der Nazis.
Die Lippramsdorfer wollten in den 1930 Jahren eine andere Skulptur, eine weniger aggressive. Ein Entwurf aus dem Jahre 1936 zeigt Soldaten, die einen toten Kameraden zu Grabe tragen. Eine Verbindung zwischen Krieg, Tod und Trauer, das wollten die Nazis nicht gezeigt haben. Sie verlangten ein kriegerisches Denkmal, das den Angriff verherrlicht. Die Nazi-Skulptur wurde 1938 gebaut und steht hier immer noch unverändert.
Springen wir von den 1930er Jahren zu heute, ins Jahr 2025.
Vor drei Jahren, am 24.02.2022, überfällt Russland die Ukraine. Ein brutaler Angriffskrieg Russlands; täglich werden viele Menschen getötet, Zivilisten wie Militärpersonen. Ein Angriffskrieg, der massiv gegen Völkerrecht verstößt, gegen Menschenrechte.
Ich meine: Es ist richtig, die Ukraine in ihrem Selbstverteidigungsrecht zu unterstützen, auch mit Waffen. Und es ist auch richtig, dass wir in Deutschland, in Europa, uns vor Angriffen von externen und internen Aggressoren schützen.
Die Nazi-Herrschaft konnte nur mit massiver Waffengewalt beendet werden. Der Einsatz von Gewalt war richtig. Wenn wir sagen: Nie wieder Faschismus, nie wieder Diktatur – dann brauchen wir dazu – neben ziviler Verteidigung . leider auch militärische Mittel, um uns vor Faschismus und Diktatur zu schützen.
Falsch ist es aber, wenn heute gefordert wird, dass wir auch in unserem Denken aufrüsten sollten. Nicht nur von Wehrfähigkeit, von Kriegsfähigkeit ist die Rede. Nato-Generalsekretär Mark Rutte fordert, wir müssten eine Kriegsmentalität entwickeln. Eine „mentality of war“. Man muss, so verstehe ich ihn, eine Kriegsperspektive einnehmen, die die gesamte Weltsicht bestimmt. In den Talkshows können wir dieses einseitige Denken häufig schon sehen: Wie selbstverständlich wird über die Effizienz von Waffensystemen diskutiert und welche militärischen Strategien wirkungsvoll sind. Militärexpert:innen äußern sich in allen Medien. Eine kritische Haltung zu Aufrüstung und Krieg wird oftmals niederdiskutiert, manchmal geradezu verspottet.
Radikaler Pazifismus mag falsch sein. Eine Kriegsmentalität, die unsere Gesellschaft durchdringt, ist aber sicher falsch.
Ich meine: gerade in einer Zeit, in der wir das Tötungspotenzial durch Aufrüstung erhöhen wollen, dann ganz besonders ist friedliches Denken nötig. Krieg darf niemals als normales Mittel der Politik gedacht werden. Eine Kriegsmentalität, die das Denken beherrscht, ein Denken, in dem Volk, Nation, Deutschland, über dem einzelnen Menschen stehen, ein solchen Denken macht Krieg, auch Angriffskrieg, wahrscheinlicher. Soviel können wir aus der Geschichte lernen.
Kürzlich kam eine repräsentative Umfrage[3] zu einem bedenklichen Ergebnis. Den Befragten wurde die folgende Aussage vorgelegt (und sie konnten dieser Aussage zustimmen oder sie ablehnen): „80 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs sollten wir Deutschen einen Schlussstrich unter die Vergangenheit des Nationalsozialismus ziehen.“ Das Ergebnis: 55 Prozent aller Befragten stimmten dieser Aussage zu. Das ist bedenklich. Unter denjenigen, die die Absicht haben die AfD zu wählen, waren 90 Prozent für einen „Schlussstrich“!
Meine Damen und Herren, liebe Freundinnen und Freunde.
Wir müssen uns immer wieder erinnern! Wir müssen wohl auch andere erinnern. Und solche Orte wie dieser hier müssen friedvoll gestaltet werden. Was ist für eine Umgestaltung wichtig? Denkmäler wirken nicht über den Kopf. Man kann sich daher nicht auf erläuternde Tafeln beschränken, sondern man muss solchen Skulpturen ästhetisch etwas entgegen setzen.
In Coesfeld kann man ein gutes Beispiel dafür sehen, wie man ein Kriegerdenkmal erhalten, aber zugleich einen Ort des friedvollen Gedenkens schaffen kann. Dort hat man neben das Soldatendenkmal eine Skulptur einer trauernden Frau mit einem Kind auf dem Arm gesetzt. Zudem wurden einige Meter Bahngleise verlegt. Die Gleise symbolisieren den Völkermord, den die Deutschen begangen haben.
Die aggressive Skulptur hier wird nicht dadurch friedlich und mahnend, wenn man hier in Uniform, mit Fackeln und Fahnen, aufmarschiert und Lieder wie „Ich hatt‘ einen Kameraden“ spielt. Auch die besten Reden und weitere Tafeln machen aus diesem aggressiven Ding kein an den Frieden mahnendes Ding: Es bleibt eine kriegsverherrlichende Nazi-Skulptur, die für den Frieden umgestaltet werden muss.
Vielen Dank.
- Dr. Josef Rieth, NSDAP-Mitglied seit 1933, war ab 1921 Amtmann des Amtes Haltern, zur Zeit der Rede Bürgermeister des Amtes Haltern, später, ab Juli 1933, dann Landrat des Landratsamtes Recklinghausen. Siehe https://de.wikipedia.org/wiki/Josef_Rieth; und Schäfer, Jürgen (2001): Die Landräte des Kreises Recklinghausen von 1816 bis 1999. Eine Datensammlung. Recklinghausen. ↑
- Digitale Kopien der Zeitungsausgabe der Halterner Zeitung vom 14.3.1933 sind hier zu finden: https://zeitpunkt.nrw/ulbms/periodical/zoom/17088403. Leider sind nicht alle Ausgaben verfügbar. Für den Zeitraum nach 1933 sind bisher keinerlei Digitalisate vorhanden. Ich habe eine Abschrift der Reden erstellt, da die Kopien der Zeitungsartikel an etlichen Stellen optisch schlecht lesbar sind und auch die Frakturschrift das Lesen nicht erleichtert. Die damalige Rechtschreibung habe ich beibehalten. Fettsetzungen der Überschriften habe ich übernommen und Hervorhebungen des Originals mit Sperrschrift durch Kursivsetzung ersetzt. ↑
- „Einstellung der Deutschen zur NS-Zeit“. Eine Studie von policy matters GmbH im Auftrag von DIE ZEIT. Bevölkerungsrepräsentative Online-Erhebung. Zielpersonen: Deutsche ab 14 Jahren. Anzahl der Befragten: 1049 / davon 263 14-19jährige. Januar 2025. https://www.zeit.de/2025/13/erinnerungskultur-nationalsozialismus-umfrage-rechtsruck-afd ↑